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In den Workshops und der Einzelberatung gehen wir auf häufig gestellte Fragen von Eltern und Pädagog*innen ein und bieten hilfreiche Antworten und Erklärungen.
Dies ist der aktuellste Blogbeitrag:
Drei Irrtümer über den Spracherwerb und was Kinder wirklich brauchen, um erfolgreich mehrsprachig aufzuwachsen
Mag.a Zwetelina Ortega
2. September 2025
Wir sprechen, um zu kommunizieren. Aber Sprache ist weit mehr als ein Kommunikationsmittel, sie ist zugleich ein eminent wichtiges Werkzeug, mit dem wir lernen, unser soziales Umfeld zu verstehen und uns in ihm einzurichten. Durch die Sprachvermittlung an Kinder führen Lehrpersonen diese nicht nur an Worte und grammatische Regeln für korrektes Sprechen heran, sie vermitteln auch Gefühle, Werte und ihre eigene Lebensanschauung. All das beeinflusst die Schülerinnen und Schüler maßgeblich in ihrer Entwicklung. Vor allem, wenn es sich dabei um die Volksschule handelt.
Was brauchen Kinder, die mit einer anderen Erstsprache aufwachsen, um gut Deutsch zu lernen?
Eine gute Sprachbeherrschung ist entscheidend für den Erfolg in der Schule, in der späteren Berufsausbildung und im gesellschaftlichen Vorankommen. Was können Eltern und Lehrkräfte tun, um Kinder auf dem Weg ihres Spracherwerbs gut zu begleiten? Und was brauchen Kinder, die mit einer anderen Erstsprache aufwachsen, tatsächlich, um gut Deutsch zu erwerben? Das fragen sich Pädagog:innen und Eltern häufig, und zu dieser Frage gibt es viele Meinungen, die sich zum Teil mehr auf Mythen als auf wissenschaftliche und evidenzbasierte Erkenntnisse stützen, und deren praktische Umsetzung bisweilen das Gegenteil von dem bewirkt, was sie beabsichtigt. In den Deutschkursen für Kinder der LIMU-Academy beobachten wir, dass vor allem jene Kinder gut Deutsch erwerben, mit denen viel und richtig gesprochen wird, und das nicht nur auf Deutsch.
Mythos Deutschgebot
Es ist nicht notwendig, Kindern in der Schule oder im Kindergarten ihre Erstsprache zu verbieten und sie zum Deutschsprechen zu zwingen, damit sie gut Deutsch erwerben. An vielen Wiener Schulen ist der Anteil an Kindern mit einer nicht-deutschen Erstsprache weit über 50 Prozent, an manchen Schulen sogar fast 100 Prozent.
Vielmehr geht es darum, mit den Kindern eine gemeinsame Kommunikationssprache zu schaffen, sich auf Zeiten und Bereiche zu einigen, wann und wo in anderen Sprachen gesprochen werden kann und dafür zu sensibilisieren, dass Kinder, die die Sprache, die gerade angewendet wird, nicht verstehen, in der gemeinsamen Sprache Deutsch ins Spielen und Handeln eingebunden werden sollen. So entsteht keine Abwertung der Erstsprachen und eine motivierende Atmosphäre, Deutsch zu sprechen, ohne Angst vor Fehlern.
Und an alle, die großen Zweifel hegen, ob dieses Modell funktionieren kann, ja, das kann es, denn es wird an zahlreichen Schulen und Kindergärten in Österreich praktiziert.
Die mehrsprachigen Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler und des Teams in der Bildungseinrichtung sollten als Ressource genutzt werden. Gut didaktisiert, kann dieses Sprachwissen einen wesentlichen Beitrag zum guten Erwerb des Deutschen leisten.
Wie können Eltern ihre mehrsprachigen Kinder beim Deutschlernen unterstützen?
Viel sprechen: Sprechen Sie viel mit Ihrem Kind, beschreiben Sie, was Sie tun, was Sie gemeinsam beobachten und was Ihr Kind wahrnimmt. Seine Sprachentwicklung ist in vollem Gange und das bis zum Ende der Volkschulzeit.
Aktiver Sprachinput: Setzen Sie Ihr Kind weder in zu frühem Alter noch zu lange einem Bildschirm aus. Suchen Sie den Austausch mit ihrem Kind, bleiben Sie dabei aufmerksam, hören Sie zu, stellen Sie Fragen und lassen Sie sich selbst nicht vom Handy oder Ähnlichem ablenken. Wenn Kinder zu viel Zeit vor dem Bildschirm verbringen, ist dies laut neuen Studien schädlich für ihre gesamte Sprachentwicklung. Davon sind sowohl die Erst- als auch die Zweitsprache betroffen.
Die faszinierende Welt der Bücher: Die fantasievollen Entdeckungsreisen, die Bücher erlebbar machen, unterstützen intensiv die Sprachentwicklung des Kindes. Bücher geben Eltern die Möglichkeit, einen schriftsprachlichen Input zu geben, der oft weit über das Anspruchsniveau der Alltagssprache hinausgeht. So können sich Kinder sprachlich entfalten, sich viele neue Worte und Konzepte aneignen, die sie später für die Schullaufbahn nutzen können. Mit dem Vorlesen kann man nie zu früh beginnen. Am besten ist es, Vorleserituale von klein auf zu etablieren. Lesen Sie Ihrem Kind viel vor, es ist eine direkte Investition in seine spätere Bildungssprache und Rechtschreibkompetenz. Außerdem können Sie mit ihm schöne, innige Momente verbringen.
Alle drei erwähnten Tipps sollten nichtdreisprachige Eltern in ihrer Familiensprache beherzigen. Eltern, die viel mit ihrem Kind sprechen, miteinander im aktiven Austausch sind und Freude am Entdecken neuer Inhalte in Kinderbüchern haben, unterstützen die Sprachentwicklung des Kindes intensiv. Das muss nicht zwingend auf Deutsch erfolgen, um von Vorteil für die deutsche Sprache zu sein. Die Sprachsysteme sind bei zwei- und mehrsprachigen Kindern eng vernetzt und profitieren voneinander. Wenn Eltern ihr Kind in ihrer Familiensprache gut begleiten, entwickelt sich auch das Deutsche erfolgreich. Der Deutschinput sollte dabei von Menschen kommen, die die Sprache auf Muttersprachenniveau beherrschen. Ein früher und regelmäßiger Besuch des Kindergartens ist ebenfalls empfehlenswert.
Mythos "Pauken und Leistung"
Von unserer eigenen Schulzeit kennen wir es sehr gut – die Englischschularbeit naht und wir pauken Vokabeln, lernen die Grammatikregeln, mit der Hoffnung, den Lückentext richtig auszufüllen. So mag der Fremdsprachenunterricht stattfinden, aber diese didaktischen Methoden sind unbrauchbar für den Erwerb des Deutschen als Zweitsprache. Vor allem Kinder im Kindergarten und in der Volksschule erwerben die Umgebungssprache Deutsch mit ähnlichen Mechanismen wie eine Erstsprache, also über Erfahrung, Beobachtung und über Beziehung.
Die Mehrsprachigkeitsforschung zeigt seit geraumer Zeit auf, welche Methoden besonders zielführend sind. Kinder lernen gut, wenn sie sich in einer sicheren, vertrauensvollen Umgebung wissen, wenn sie Wertschätzung erfahren und wenn sie sich für ihren sprachlich-kulturellen Hintergrund nicht schämen müssen. Sie lernen gut, wenn sie Sprache mit ihren Sinnen und dem ganzen Körper erfahren und wenn sie vielseitige Zugänge erproben können. Ein Arbeitsblatt nach dem anderen und das zigfache Maldiktat gehören nicht zu diesen Zugängen. Die weltweit verbreitete Immersionsmethode zeigt hier viele fortschrittliche Ideen auf, die auch in der Schule im Sprachunterricht mehr Anwendung finden sollten.
Aber jedes auch noch so gute Material, jede auch noch so gute Methode lebt von der Lehrperson, die sie anwendet. An Wiens Schulen arbeiten die Lehrkräfte ständig am Limit. Bis sich an dieser Stelle etwas verändert, wird es mit der Innovation in der Zweitsprachenvermittlung herausfordernd bleiben. Lehrerinnen und Lehrer werden an vielen Stellen allein gelassen, mit zu großen Klassen und Gruppen und mit zu wenig Raum und Zeit, sich selbst weiterzuentwickeln. Solange in den Kindergärten und Schulen der Fachpersonalmangel derart alarmierend ist, wird Veränderung, die dringend notwendig ist, kaum gelingen können.
Eine weitere Sprache neben Deutsch im Leben des Kindes ist niemals ein Nachteil. Wenn Kinder mit mehreren Sprachen aufwachsen, ist es immer ein Gewinn für ihre Sprachentwicklung, und nicht nur für diese. Mehrsprachig aufwachsende Kinder entwickeln sich gesamtkognitiv besser und haben im Leben viele weitere Vorteile: So entwickeln sie zum Bespiele ein gutes Gefühl für jede weitere Sprache, die sie in ihrem Leben lernen, verfügen über bessere kommunikative Kompetenzen, eine erhöhte kognitive Flexibilität und haben dank ihrer mehrsprachigen Kompetenz mehr soziale Interaktionen, was ihnen ermöglicht, vielschichtig fürs Leben zu lernen.1 Mit mehreren Sprachen aufzuwachsen ist ein großes Geschenk, das Eltern und Bildungseinrichtungen den Kindern machen können. Dabei ist jede Sprache ausnahmslos gleich viel wert.
Mehrsprachigkeit ist kein vulnerabler Punkt für den guten Deutscherwerb, auch wenn uns der öffentliche Diskurs das hartnäckig zu vermitteln versucht. Es mag Kinder geben, die Anfangsschwierigkeiten haben, gut Deutsch zu lernen, aber das liegt nicht an ihrer Mehrsprachigkeit, sondern an den widrigen Rahmenbedingungen, unter denen sie lernen müssen. Dabei haben Eltern, Lehrkräfte und die Bildungspolitik die Verantwortung und niemals das Kind.
Zwetelina Ortega ist Sprachwissenschafterin, Autorin, Expertin für Mehrsprachigkeit und Gründerin des Beratungszentrums Linguamulti. Dort bietet sie Beratung, Weiterbildungen und Projektkoordination für Mehrsprachigkeit und Sprachförderung an, in den Bereichen Bildung, Erziehung und Unternehmertum. Sie ist Gründerin der LIMU Academy, des Sprachinstituts zur Frühförderung der deutschen Sprache für Kinder zwischen zwei und zehn Jahren. Ortega ist dreisprachig mit Bulgarisch, Spanisch und Deutsch aufgewachsen. In diesen drei Sprachen verfasst sie auch ihre literarischen Texte (2022 Kinderbuch "Die Umami Bande" (Amiguitos Verlag), 2012 Gedichtband "Aз und tú" (Edition Yara). Sie leitet Fortbildungen und lehrt unter anderem an diversen Pädagogischen Hochschulen in Österreich und Deutschland und lehrte an der Universität Wien. 2024 wurde sie mit dem Kulturpreis "Mini-Metron" ausgezeichnet.
Fußnote
1 vergl. P. Cichon 2010, S. Wermelinger 2017, A. Onysko 2016, T. Künne 2013, E. Monatnari, J. Panagiotopoulou 2019